Nehmen wir als Beispiel die zyklische Bewegung zwischen Wohlsein und Unwohlsein. Wir erkennen, dass auch wir einen neuen Zyklus nie an derselben Stelle beginnen wie beim vorangegangenen. Indem wir bei einem Zyklusdurchgang von Wohlsein und Unwohlsein Erfahrungen gemacht haben, haben wir uns inzwischen entwickelt. Dieser dritte Aspekt der Polarität ist also die Voraussetzung für Wachstum, Entwicklung, Reifung, und Entfaltung.
Die oben beschriebene geometrische Sichtweise polarer Zyklen ist eine Vereinfachung der Realität. In Wirklichkeit leben wir in einem komplexen Geflecht, das aus der Überlagerung unzähliger solcher Spiralen entsteht, die sich gegenseitig beeinflussen und die über den, jedem Zyklus innewohnenden dritten Aspekt, ständig neu gesteuert werden. Wir sind ständig dem Herzrhythmus, dem Atemrhythmus, dem Verdauungsrhythmus, dem Rhythmus des Wachseins und des Schlafes, des Wohlseins und des Unwohlseins, aber auch äusseren, oft sozial gegebenen Rhythmen, wie Stundenrhythmen, Tagesrhythmen, Wochenrhythmen, Jahresrhythmen ausgesetzt. Auch unser Lebensweg folgt solchen Rhythmen, deren Zyklen oft mit augenfälligen Ereignissen beginnen, wie die Zahnung, Zahnwechsel, Pubertät, Familiengründung, Pensionierung usw. Eine Pflanze, die in die Höhe wächst, produziert an ihrem Stengel zyklisch Blätter, die allmählich ihre Form leicht verändern, bis die Pflanze schliesslich sogar dazu übergeht, Kelchblätter, Blütenblätter Staubblätter und Fruchtblätter zu produzieren und damit einem neuen Rhythmus gehorcht, demjenigen des vegetativen Wachstums und der Entwicklung der Samen und des Absterbens.
Wir können annehmen, dass der dritte Aspekt polarer Zyklen zu einer grundlegenden Gesetzmässigkeit gehört und dass er ein notwendiges Glied zur Überwindung der Begrenztheit und Enge des geschlossenen Kreiszyklus ist. Er erlaubt uns, Abstand vom augenblicklichen Ereignis zu nehmen und Beziehungen und Ursächlichkeiten zu anderen Zyklen zu erkennen. Er erlaubt dem nächsten Zyklus auch kreative Möglichkeiten, so dass dieser, trotz der gleichen Grundstruktur, den Raum für neue Wege findet. Der dritte Aspekt ermöglicht auch die Einflussnahme zwischen Zyklen verschiedener Funktionssysteme. Der "Sinn" der Funktionsart eines einzelnen Funktionssystems für andere wird damit offensichtlich und wir sehen, dass auch in psychischen Belangen das dritte Element eine sinnstiftende, seelische Entwicklung ermöglicht.
* * *
Zusammenfassend können wir annehmen, dass der Polarität und den Rhythmen folgende Gesetzmässigkeiten zu Grunde liegen:
- Jede Feststellung einer Qualität impliziert das Vorhandensein ihres Gegenteils und wir erkennen in dieser Gegensätzlichkeit die Polarität. Wir können nicht "Tag" denken, ohne diesem die Nacht entgegen zu stellen, nicht "Wohlsein" empfinden ohne die Erfahrung des „Unwohlseins“ gemacht zu haben, es gibt kein Leben ohne den Tod.
- Die Spannung jeder Polarität kann den Impuls zu einer zyklischen oder rhythmischen Bewegung geben.
- Die rhythmische Bewegung schreibt sich in die Zeit- und Raumachse ein. Nach dem Durchlaufen eines Zyklus kann der folgende Zyklus mit dem vorhergehenden nie mehr identisch sein, denn das Umfeld hat sich inzwischen geändert. Der folgende Zyklus ist dem vorhergehenden ähnlich. Die Wechselwirkung zwischen Zyklus und Umfeld erlaubt es dem Zyklus, sich über die Spiralbewegung im dritten Aspekt der Polarität zu entwickeln.
Die Dreigliedrigkeit rhythmischer Zyklen gibt eine Idee für die Dynamik hinter zahlreichen polaren Phänomenen, wie für das Wohlsein und Unwohlsein, aber auch für die polaren Ausdrucksformen in der Funktionsart von Kindern und Erwachsenen wie Bewunderung und Verachtung, Spielen und Streiten, Denken und Handeln, Schüchternheit und leichter Kontakt oder appliziert und impliziert. Alle diese Pole ergeben, für sich alleine betrachtet, nur wenige Erkenntnisse, sondern müssen in ihrer polaren Dynamik und deren drittem Aspekt gesehen werden.
Die Dreigliedrigkeit der Polaritäten kann schliesslich auch Erklärungsansätze für die Dreierwiederholung der Geschwisterfolgen geben.
* * *