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I. Konzepte





1. Ein dynamisches Konzept der Polarität



Die Dreierfolge der Typologien in der Geschwisterfolge überrascht. Dabei zeigt die vergleichende Befragung aller Kinder der gleichen Familie, dass sich die polare Gegensätzlichkeit der ersten beiden Kinder beim vierten und fünften Kind und beim siebten und achten Kind wiederholt und es stellt sich die Frage, warum diese Wiederholungen nicht direkt mit dem dritten und vierten, dem fünften und sechsten Kind, usw. erfolgen. Warum schieben sich dritte, sechste und neunte Kinder gleichsam wie Polster zwischen die Polaritäten? Da für diesen Dreierrhythmus kaum ein entsprechender Dreierrhythmus im elterlichen Verhalten als Ursache in Frage kommt scheint diese Erscheinung eine innere Gesetzmässigkeit der Dynamik unter Geschwistern zu verraten.


Fragen zu dieser Dreierwiederholung drängten sich schon früh auf, und es kamen Antworten aus anderen Bereichen, bei denen es um Wechselwirkungen in polaren Erscheinungen geht. Ich werde im folgenden einen Ansatz vorstellen der für obige Frage einzelne Antworten geben kann, aber auch viele neue Fragen aufwirft.





Polaritäten, Zyklen, Rhythmen



Wir sind umgeben von Polaritäten. Überall gibt es ständig gegenläufige Tendenzen, die zu Bewegungen und zu Transformationen führen können.


Schon das Universum und die Natur zeigen ständig das uralte Gesetz, dass jede Bewegung durch Trennungen, Spannungen, Gegensätze und Polaritäten bewirkt wird. Wir erleben den Wechsel von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, von Geburt und Tod. Das Wachstum der Pflanzen ist bestimmt durch gegenläufige Bewegungen, wie diejenigen, die nach oben streben und diejenigen, die nach unten streben.


Unser physischer Körper funktioniert mit einer Vielfalt solcher Polaritäten, die alle ineinander greifen. In unserem Knochengewebe sind ständig aufbauende Zellen und abbauende Zellen am Werk. Dauernd pendeln wir zwischen dem Sympathikus und dem Parasympathikus hin und her, beides Pole des vegetativen Regulationssystems, welche zum Beispiel beim Tier einerseits mit Jagd, Anstrengung, Angst und Aggression und anderseits mit Ruhe, Verdauung und Schlaf einhergehen. In unserem Befinden erleben wir das ständige Schwanken zwischen "guten" und "schlechten" Tagen, zwischen dem Wohlsein und dem Unwohlsein, subjektive Empfindungen, die uns als ständige Realität in unserem Alltag begleiten.


Bei all diesen Wechselwirkungen geht es immer sowohl um gegensätzliche als auch um komplementäre Tendenzen, die stetig im Wechselspiel ineinander greifen und zyklische Bewegungen und Rhythmen bewirken. Rhythmen bestehen also aus zwei polaren Phasen, die durch zwei gegenläufige Tendenzen bestimmt sind. Betrachten wir unser Herz, stellen wir fest, dass es zweier polarer Bewegungen fähig ist. Die Systole (Zusammenziehung des Herzmuskels) und die Diastole (Erschlaffung und Wiederauffüllung des Herzens). Stellen wir uns diese beiden Phasen alleine, ohne Einfluss des anderen Pols vor, hätten wir auf der einen Seite eine Systole, die nicht aufhören würde den Herzmuskel zusammenzuziehen bis zum Extremzustand, bis dieses Organ eine steinharte Kugel wäre, verhärtet in seiner Form. Auf der anderen Seite hätten wir die Diastole, bei der das Organ, ohne Zurückhaltung, immer mehr erschlaffte und grösser würde, bis sich die Wände auflösten, das heisst bis zur Auflösung seiner Form. Nur über das Wechselspiel zwischen den Polaritäten, das heisst über die rhythmische gegenläufige Bewegung weitab von den Extremen finden wir ein bewegtes Gleichgewicht, welches dieses Organ zu seiner Funktion befähigt.


Diese eigenrhythmische Tätigkeit ergibt sich aus dem Aufbau des Herzens und offenbart dessen Autonomie. Es integriert sich aber auch in die allgemeine rhythmische Organisation des Organismus, zum Beispiel indem es seinen Rhythmus an die – ebenfalls rhythmische – Tätigkeit der Lunge anpasst. Diese wiederum passt sich der körperlichen und psychischen Tätigkeit des Individuums an, indem sie die Atemfrequenz und das Atemvolumen erhöht oder erniedrigt, wobei sich das Gleichgewicht zwischen den Polen etwas verschiebt, aber immer noch ein dynamisches Gleichgewicht weitab der Pole bleibt.


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Der dritte Aspekt der Pole: Die Wechselwirkung des Zyklus



Wir sind es gewohnt, uns auf Extreme zu beziehen und suchen, wenn die Extreme zu spannungsgeladen werden, den Mittelweg. Wir vergessen dabei aber, dass es bei Polaritäten keinen Mittelweg gibt. "Mittelweg" bedeutet, dass man eben nicht mehr in der Bewegung der Polarität ist. So sagen wir "der Mann" und "die Frau" und denken an deren Polarität, und wir sagen "das Kind" und zeigen damit, dass sich das Kind eben noch nicht in der geschlechtlichen Polarität entfaltet hat. Auch bei den subjektiven Empfindungen von Wohlsein und Unwohlsein, die beide durch unsere Beziehung zum Umfeld bestimmt werden, würde der Mittelweg aus den polaren Bewegungen des Lebens herausführen und wir wären dann für Einflüsse unseres Umfeldes unempfänglich. Nur durch zyklische Bewegungen und Rhythmen kann es zum Austausch zwischen verschiedenen Systemen kommen.





Würde es nur bei zwei Kräften im Zyklus bleiben hätten wir eine geschlossene Kreisbewegung. Es ist zwar eine Bewegung, aber sie tritt am Ort und wiederholt ständig den gleichen Zyklus. Geschlossene Kreiszyklen existieren jedoch in der Natur nicht. Es würde sich dabei um ein Perpetuum mobile handeln welches nur in einem hermetisch abgeschlossenes System erdacht werden kann. Rhythmische Erscheinungen stehen in der Realität immer in nachbarschaftlicher Beziehung, beeinflussen immer andere Systeme des Umfeldes und werden von diesen beeinflusst. So wird der autonome Herzrhythmus ständig durch den Einfluss anderer Funktionssysteme verändert. Beim zyklischen Geschehen des Tagesablaufes beginnen wir einen neuen Tag der die gleiche Grundstruktur wie der vorangegangene Tag zeigt jedoch hat sich die Tages- und Nachtlänge verschoben.

Tatsächlich befinden wir uns bei einem neuen Zyklusbeginn zwar am gleichen Kreissektor wie beim vorhergehenden aber wir sind an einem neuen Ort, der aus der zweidimensionalen, flächenhaften Kreisbewegung hinaus in den Raum, in die dritte Dimension hinausführt. Stellen wir uns mehrere aufeinander folgende Zyklen vor, erhalten wir eine Spirale und wir entdecken, dass wir eine neue, dritte Kraft oder Bewegung haben, die senkrecht zu den beiden polaren Bewegungsrichtungen steht und in den Raum führt.


Erst dank der Möglichkeit dieser dritten Bewegungsrichtung in der Spirale kann sich der polare Zyklus aus seinem "Treten am Ort" entwickeln und, über die Öffnung für andere Einflüsse, wird die Integration im Umfeld möglich. Wir stellen also fest, dass sich bei Zyklen die rhythmische Tätigkeit in der dritten "Aktivität", das heisst dem dritten Aspekt der Polarität dem Umfeld anpasst. Gegenüber dem geschlossenen Kreiszyklus, bei dem ein Zyklus in einen identischen Zyklus mündet, sind in der Spirale die einzelnen Zyklen untereinander nicht mehr identisch, sondern ähnlich. Zyklen einer rhythmischen Bewegung zeigen untereinander die gleiche Grundstruktur, können aber etwas grösser oder kleiner werden oder sich ein wenig zum einen oder zum anderen Pol verschieben. Der "kleine" Sprung von „gleich“ zu „ähnlich“ ist also der Angelpunkt jeder "Entwicklung". Nur indem bei jedem Zyklusdurchgang kleine Variationen in das Grundthema eingebracht werden, ändert dieses Thema allmählich das Gesicht und erhält neue Bedeutungen. Der dritte Aspekt der Polarität eröffnet neue Möglichkeiten.





Nehmen wir als Beispiel die zyklische Bewegung zwischen Wohlsein und Unwohlsein. Wir erkennen, dass auch wir einen neuen Zyklus nie an derselben Stelle beginnen wie beim vorangegangenen. Indem wir bei einem Zyklusdurchgang von Wohlsein und Unwohlsein Erfahrungen gemacht haben, haben wir uns inzwischen entwickelt. Dieser dritte Aspekt der Polarität ist also die Voraussetzung für Wachstum, Entwicklung, Reifung, und Entfaltung.

Die oben beschriebene geometrische Sichtweise polarer Zyklen ist eine Vereinfachung der Realität. In Wirklichkeit leben wir in einem komplexen Geflecht, das aus der Überlagerung unzähliger solcher Spiralen entsteht, die sich gegenseitig beeinflussen und die über den, jedem Zyklus innewohnenden dritten Aspekt, ständig neu gesteuert werden. Wir sind ständig dem Herzrhythmus, dem Atemrhythmus, dem Verdauungsrhythmus, dem Rhythmus des Wachseins und des Schlafes, des Wohlseins und des Unwohlseins, aber auch äusseren, oft sozial gegebenen Rhythmen, wie Stundenrhythmen, Tagesrhythmen, Wochenrhythmen, Jahresrhythmen ausgesetzt. Auch unser Lebensweg folgt solchen Rhythmen, deren Zyklen oft mit augenfälligen Ereignissen beginnen, wie die Zahnung, Zahnwechsel, Pubertät, Familiengründung, Pensionierung usw. Eine Pflanze, die in die Höhe wächst, produziert an ihrem Stengel zyklisch Blätter, die allmählich ihre Form leicht verändern, bis die Pflanze schliesslich sogar dazu übergeht, Kelchblätter, Blütenblätter Staubblätter und Fruchtblätter zu produzieren und damit einem neuen Rhythmus gehorcht, demjenigen des vegetativen Wachstums und der Entwicklung der Samen und des Absterbens.


Wir können annehmen, dass der dritte Aspekt polarer Zyklen zu einer grundlegenden Gesetzmässigkeit gehört und dass er ein notwendiges Glied zur Überwindung der Begrenztheit und Enge des geschlossenen Kreiszyklus ist. Er erlaubt uns, Abstand vom augenblicklichen Ereignis zu nehmen und Beziehungen und Ursächlichkeiten zu anderen Zyklen zu erkennen. Er erlaubt dem nächsten Zyklus auch kreative Möglichkeiten, so dass dieser, trotz der gleichen Grundstruktur, den Raum für neue Wege findet. Der dritte Aspekt ermöglicht auch die Einflussnahme zwischen Zyklen verschiedener Funktionssysteme. Der "Sinn" der Funktionsart eines einzelnen Funktionssystems für andere wird damit offensichtlich und wir sehen, dass auch in psychischen Belangen das dritte Element eine sinnstiftende, seelische Entwicklung ermöglicht.


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Zusammenfassend können wir annehmen, dass der Polarität und den Rhythmen folgende Gesetzmässigkeiten zu Grunde liegen:

  1. Jede Feststellung einer Qualität impliziert das Vorhandensein ihres Gegenteils und wir erkennen in dieser Gegensätzlichkeit die Polarität. Wir können nicht "Tag" denken, ohne diesem die Nacht entgegen zu stellen, nicht "Wohlsein" empfinden ohne die Erfahrung des „Unwohlseins“ gemacht zu haben, es gibt kein Leben ohne den Tod.
  2. Die Spannung jeder Polarität kann den Impuls zu einer zyklischen oder rhythmischen Bewegung geben.
  3. Die rhythmische Bewegung schreibt sich in die Zeit- und Raumachse ein. Nach dem Durchlaufen eines Zyklus kann der folgende Zyklus mit dem vorhergehenden nie mehr identisch sein, denn das Umfeld hat sich inzwischen geändert. Der folgende Zyklus ist dem vorhergehenden ähnlich. Die Wechselwirkung zwischen Zyklus und Umfeld erlaubt es dem Zyklus, sich über die Spiralbewegung im dritten Aspekt der Polarität zu entwickeln.

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Die Dreigliedrigkeit der Polaritäten entspricht uralten Erkenntnissen der Menschheit, wie sie beispielsweise in den verschiedenen Formen von Trinitäten vieler Kulturen zum Ausdruck kommen. Ich versuche hier, diese Dreigliedrigkeit weniger von geistigen Überlegungen her abzuleiten, sondern gehe viel mehr von der Beobachtung polarer Phänomene, die unser Alltagsleben begleiten, aus.


Die Dreigliedrigkeit rhythmischer Zyklen gibt eine Idee für die Dynamik hinter zahlreichen polaren Phänomenen, wie für das Wohlsein und Unwohlsein, aber auch für die polaren Ausdrucksformen in der Funktionsart von Kindern und Erwachsenen wie Bewunderung und Verachtung, Spielen und Streiten, Denken und Handeln, Schüchternheit und leichter Kontakt oder appliziert und impliziert. Alle diese Pole ergeben, für sich alleine betrachtet, nur wenige Erkenntnisse, sondern müssen in ihrer polaren Dynamik und deren drittem Aspekt gesehen werden.


Die Dreigliedrigkeit der Polaritäten kann schliesslich auch Erklärungsansätze für die Dreierwiederholung der Geschwisterfolgen geben.


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2. Ein dynamisches Konzept der Gesundheit



Üblicherweise werden Gesundheit und Krankheit als Gegensätze gesehen, doch handelt es sich hier nicht um eine echte Polarität. Dagegen erleben wir in unserer Alltagsrealität echte, sich ergänzende Pole im stetigen Wechsel unserer Befindlichkeit. Wir fühlen uns manchmal wohl und zu anderen Zeiten unwohl, wir erleben angenehme und unangenehme Augenblicke, "gute" und "schlechte" Tage. Diese beiden Zustände lösen sich ständig ab, bewegen sich in Zyklen verschiedener Länge, wechseln von einem Augenblick zum anderen oder können sich über Tage und Wochen oder über ganze Lebensabschnitte erstrecken. Zyklen verschiedener Länge können sich so gegenseitig überlagern.





Fall: Wohlsein und Unwohlsein


Nikolas ist 5-jährig und das dritte von drei Kindern. Er leidet seit zwei Jahren an wiederholten Halsentzündungen, die jedes Mal eine ärztliche Intervention erforderten. Anfangs kamen diese Halsentzündungen alle zwei bis drei Monate vor, seit einem Jahr auch häufiger. Durch diese ständigen Wiederholungen der Krankheit merkte die Mutter schliesslich im Voraus, wenn das Kind krank wurde, denn Nikolas zeigte regelmässig schon Tage oder Wochen vor dem Auftreten der Krankheit die gleichen Verhaltensformen. Diese traten in folgender zeitlicher Reihenfolge auf:


  1. Lutscht häufiger den Daumen
  2. Isst ohne Freude
  3. Wird langsam; wenn man ihm etwas sagt, braucht er lange bis er reagiert
  4. Verteidigt sich nicht mehr, aber kommt zur Mutter petzen
  5. Redet wie ein Baby; will lustig sein, ist es aber nicht
  6. Stellt sich in den Schatten; wenn man keine Zeit für ihn hat, zieht er sich in sein Zimmer zurück und man vergisst ihn
  7. Müde, legt beim Spiel seinen Kopf ab
  8. Wird klettenhaft
  9. Überempfindlich auf kleine Bemerkungen; geht still in eine Ecke und weint
  10. Will nicht mehr selber essen; man muss ihn füttern


Beim Auftreten der letzten zwei Zeichen bricht die Krankheit regelmässig innerhalb von ein oder zwei Tagen mit Fieber und Halsweh aus. Alle anderen Zeichen können auch ausserhalb vom Krankheitsgeschehen vorkommen, aber je nach den Umständen nur als isolierte Zeichen, oder mehrere Zeichen zusammen, die aber nur ein oder zwei Tage, oder auch nur während Stunden bleiben. Alle diese Zeichen sind bei diesem Kind Teil seines Unwohlseins, welches im Alltag in ständigem Wechselspiel mit seinem Wohlsein abwechselt. Letzteres wird von der Mutter so beschrieben:


  1. Ein freudiges Kind, das singt und lacht;
  2. Humorvoll;
  3. Die Sonne in der Familie;
  4. Seine Lebensfreude;
  5. Will alles machen wie sein Bruder und seine Schwester;
  6. Wissensdurst;
  7. Schmusig;
  8. Das strahlende Kind, alle mögen es;
  9. Aktiv, übernimmt Initiativen; ist schnell. Hat grosse Ausdauer beim Laufen
  10. Beschäftigt sich gut alleine, zeichnet, grosse Vorstellungskraft
  11. Verteidigt sich.


Wir stellen fest, dass die Krankheit in ihrer chronisch, sich wiederholenden Form nicht das eigentliche Problem ist. Das Kind lebt normalerweise in einem ständigen, gesunden Wechsel zwischen seinem Wohlsein und seinem Unwohlsein. Die Krankheit tritt auf, wenn die Zeichen seines Unwohlseins vollständiger und aufdringlicher werden, und wenn sie verharren, das heisst, wenn sie nicht mehr mit den Zeichen des Wohlseins abwechseln. Das eigentliche Problem ist also, dass das Kind in einem der beiden Zustände des Befindens festgefahren ist. Eine Heilung der Krankheit sollte darauf abzielen, den Organismus wieder in das Wechselspiel zwischen dem Wohlsein und dem Unwohlsein zu führen. Dann verlieren die Krankheitssymptome ihre Existenzgrundlage und verschwinden.


Die meisten üblichen Krankheiten stellen sogar einen Versuch des Organismus dar, mit ausserordentlichen Ausdrucksformen, das heisst den Krankheitssymptomen, eine Änderung im festgefahrenen Alltag herbeizuführen. Diese Änderung bewirkt dann in den meisten Fällen, dass das Kind wieder in das Wechselspiel seines Befindens zurückfindet: Das Kind bleibt zu Hause, hat Fieber, schläft viel und hat für ein paar Tage seine Mutter ganz für sich um dann später wieder in seinen gewohnten Schulalltag zurückzufinden.


Wenn wir diese beiden Befindenszustände gedanklich auseinander nehmen, erkennen wir im Wohlsein Freude, Lust, Offenheit und Neugier und, wenn diese Qualitäten nicht vom Unwohlsein zurückgehalten würden, würde sich das Wohlsein in Erregung, Verzettelung, Ruhelosigkeit, in einen Dauerzustand von übertriebener Euphorie und schliesslich in Auflösung verlieren. Umgekehrt erleben wir im Unwohlsein, Rückzug, In-Sich-Kehrung und Selbstbesinnung, welche schliesslich, ungebremst durch das Wohlsein, in Verschlossenheit, Verhärtung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Umfeld führen und sich in Schwäche, Schmerz, Verzweiflung, Invalidität und in Erstarrung verkrampfen. Es handelt sich also beim Wohlsein und beim Unwohlsein um eine echte Polarität; beide Zustände sind für sich alleine nicht mit dem Leben vereinbar. Solange Leben besteht, bemüht sich der Organismus ständig, diese beiden Befindenszustände in einem dynamischen rhythmischen Gleichgewicht, weitab von den Polen zusammenzuhalten. Es ist diese alltägliche Bewegung zwischen den Polen des Wohlseins und des Unwohlseins, die wir als Gesundheit erleben:





Gesundheit:
Eine Wellenbewegung

​zwischen Wohlsein und Unwohlsein.




Man muss sich also davor hüten, Wohlsein und Unwohlsein einfach als den guten und den schlechten Zustand aufzufassen. Beide sind notwendige Teile eines steten Wechsels. "Wohl" und "Unwohl" des Befindens weisen mehr auf unsere subjektive Empfindung gegenüber dem Wechsel hin. So kann es Abends leicht in uns denken:„Schade, der Tag ist vergangen, die Nacht kommt...“. Stellen wir uns aber vor, es gäbe keine Nacht mehr, würden wir bald sehnsüchtig eine solche herbeiwünschen. Auch wenn wir für einen Augenblick das eben Vergehende bedauern, brauchen wir offensichtlich diesen Wechsel.

Im obigen Fallbeispiel sehen wir, dass auch das Wohlsein des Kindes, ungebremst durch das Unwohlsein, in Überdrehtsein, berauschende Euphorie führen würde, wobei diese Zustände in ihrer Ungebremstheit ihrerseits, ebenso die Bedingungen für das Auftreten einer Krankheit herbeiführen können.


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3. Die Heilung



Heilung könnte folgendermassen definiert werden:

Eine Verbesserung des Allgemeinzustandes, was ein Verschwinden der Symptome der Krankheit bewirkt.


Der Ausdruck „Zustand“ stört. Nach dem, weiter oben Gesagtem, handelt es sich viel mehr um ein Wechselspiel zwischen dem Wohlsein und dem Unwohlsein. Wir können also eine verfeinerte Definition der Heilung geben:

Die Wiederherstellung des freien Wechselspiels zwischen dem Wohlsein und dem Unwohlsein des Organismus der in einem der beiden Zustände verharrt war. Dieses Wechselspiel bewirkt das Verschwinden der Symptome.


Für eine echte Heilung steuert man also die „allgemeine Funktionsart“ der Person an und nicht das Symptom. Bei den meisten alltäglichen Krankheiten entspricht das Symptom sogar einem Versuch des Organismus wieder zu einem Gleichgewicht des Wechselspiels zwischen Wohlsein und Unwohlsein zurückzufinden. Zum Beispiel hat das kranke Kind Husten und Fieber und bleibt zu Hause, wo es seine Mutter ganz für sich hat um nach einigen Tagen wieder, geheilt, in seinen üblichen Schulalltag über zu gehen.


Es ist also eine Bedingung, dass es neben dem Verschwinden der Symptome auch zu einer Verbesserung des Allgemeinzustandes kommt.


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II. Methoden





1. „Messung“ des Allgemeinzustandes



Wie kann die Verbesserung des Allgemeinzustandes gemessen werden?

In der Konsultation erscheinen regelmässig Zeichen, welche „ein wenig“ unangenehm sind, aber der Patient ist an sie gewohnt und erduldet sie als zum Leben gehörend. Zum Beispiel hat er regelmässig Einschlafzeiten von ½ bis 1 Stunde wegen sorgenvollen Gedanken oder er hat morgens grosse Schwierigkeiten zum Aufstehen, oder er kommt bei den Mahlzeiten nicht an ein Sättigungsgefühl und hört nur auf sich nachzuschöpfen um „nicht dick“ zu werden. Andere haben bei jedem Stress ein Blähungsgefühl.

Ich halte alle diese „banalen“ Zeichen in der Krankengeschichte fest. Wenn später mit der Arzneieinnahme die Hauptsymptome verschwinden und zur gleichen Zeit auch ein Grossteil der banalen Zeichen, kann ich diese Änderungen als eine echte Heilung betrachten: Es kam auch zu einer Verbesserung des Allgemeinzustandes.





2. Zeichen oder Symptome



In der Homöopathie unterscheiden wir die Zeichen von den Symptomen.

Bei den Zeichen handelt es sich um Ausdrucksformen die an sich weder schlecht noch gut sind, sondern charakteristisch, typisch für die Funktionsart eines Individuums. (Siehe Menu II, „Homöopathie)

Bei den Symptomen handelt es sich um Ausdrucksformen, die für den Träger „unangenehm“ sind oder für das Umfeld „störend“ (und/oder sie können den Verdacht auf eine Krankheit erregen). zum Beispiel ist es natürlich dass Kinder mehr Vitalität zeigen als Erwachsene. Die, damit verbundene erhöhte Aktivität kann dann die Eltern sogar mit Freude erfüllen. Wenn diese Aktivität stört, ist dies meistens ein Ausdruck dafür dass sich das Kind nicht wohl in seiner Haut fühlt, denn es ist dann ruhelos und „überdreht“.


Bei der Arzneimittelsuche stützen wir uns in der Homöopathie vor allem auf die, für den Patienten typische Zeichen ab und weniger auf Symptome. Letztere sind, je stärker sie sich aufdrücken, vor allem typisch für die Krankheit.


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3. Der Vorzustand von Krankheiten



Im obigen Fall des kranken Kindes beschreibt die Mutter auch den Zustand der regelmässig vor jedem Krankheitsausbruch erscheint. Diese Vorzustände sind häufig und beschreiben Bilder die typisch sind für das Unwohlsein in der allgemeinen Funktionsart des Patienten.

Oft erstaunen diese Vorzustände nicht nur für ihre Prägnanz, sondern sie decken in ihrer chronologischen Erscheinungsfolge auch den „Mechanismus“ des Unwohlseins auf, was eine grosse Hilfe für das Verständnis des Leidens ist.

Im obigen Falle handelt es sich um den Vorzustand im Rahmen einer sich wiederholenden akuten Krankheit. Die Vorzustände zeigen sich auch regelmässig vor dem Erscheinen chronischer Krankheiten und geben auch dort einen grossen Beitrag zum Verständnis der Krankheit.


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